11. Oktober 2018 – Roncesvalles – Zubiri (22,7 km)
Ich bin in Zubiri angekommen bzw. habe mich zeitweise dorthin geschleppt. Die Etappe war zwar deutlich leichter, als die über die Pyrenäen gestern, aber ich habe mich trotzdem extrem schwergetan, der Tag gestern steckt mir definitiv noch in den Knochen. Auf ebenen Abschnitten habe ich das Gefühl auch 30, 40 km (ok, ok – das ist vielleicht ein bisschen übertrieben…) locker abreißen zu können. Aber sobald es mehr als 10 m am Stück bergauf geht, geht bei mir gar nichts mehr. Puls 200, kurzatmig, völlig am Ende. Dabei waren die Anstiege heute eigentlich ein Klacks. Wenn das nicht besser wird, mache ich mir ernsthaft Gedanken, wie das weitergehen soll. Das Teilstück morgen nach Pamplona sollte noch recht harmlos sein, aber dann?
Bergauf komme ich mit meiner selbst entwickelten 50/1-Technik einigermaßen voran. 50 Schritte gehen (in etwas flacherem Gelände gehen auch 100…) und dann 1 Minute kurz durchschnaufen. Sollte ich mir vielleicht patentieren lassen… Ich habe mich gestern absolut überanstrengt und mein Körper teilt mir jetzt sehr deutlich mit, dass er das überhaupt nicht toll findet.
Dazu kommt, dass sich mein rechtes Knie meldet. Nicht schlimm bisher, aber unschön. Ich muss mich auch zwingen, gleichmäßiger zu atmen, zwischendurch hatte ich auch noch Seitenstechen. Das Blödeste, was mir heute passiert ist, ist aber, dass ich den Clip vom Bauchgurt meines Rucksacks kaputt gemacht habe. Bin beim Auffüllen meiner Wasserflaschen, als ich sie wieder am Rucksack verstauen wollte, draufgetreten. Die Hälfte der Strecke habe ich also das ganze Gewicht auf meinen Schultern getragen. Unbequem, ging aber eben noch so. Ich habe einen kleinen Spanngurt dabei, natürlich irgendwo ganz unten im Rucksack. Der war eigentlich dazu gedacht, bei Bedarf Sachen außen am Rucksack festzumachen, aber vielleicht lässt sich damit zumindest notdürftig etwas reparieren. In Pamplona müsste ich mir ansonsten einen neuen Rucksack kaufen. Ich wollte ja ohnehin einen Tag in der Stadt bleiben, dann habe ich wohl noch einen Grund mehr. Ich würde allerdings gerne darauf verzichten.
Nach dem Wecken um 6:15 Uhr durch Mönchsgesang (kommt davon, wenn man in einem Kloster übernachtet) bin ich mit Michael bei Anbruch der Dämmerung losgelaufen. Frühstück habe ich ausfallen lassen und stattdessen lieber noch eine halbe Stunde länger gedöst. Nach den Erfahrungen von gestern hätte ich ohnehin nichts runter bekommen. Gott, was sind mir die ersten Schritte schwergefallen! Andreas und Meike habe ich auch wiedergetroffen, aber heute waren alle drei für mich zu schnell unterwegs. Die meiste Zeit war ich also alleine auf dem Weg. War vielleicht auch ganz gut so, so hat niemand mein Gefluche gehört…
Es gibt einige Leute, die man unterwegs immer mal wieder trifft, wenn man sich in Pausen gegenseitig überholt. Da wäre das amerikanische Paar, das mit seinem Sohn (vielleicht 8 Jahre) unterwegs ist. Jonathan aus Stockholm, der seit drei (!) Jahren nichts anderes macht, als Langstrecken zu wandern und die Etappen gefühlt sprintet. Der alte Italiener, der sich mit kaputten Knien quält, aber trotzdem schneller unterwegs ist, als ich, …
Was ich überhaupt nicht verstehe ist, warum so viele Pilger schon in der Dunkelheit loslaufen. Zu dieser Jahreszeit ist es mittags nicht zu heiß und ausreichend Unterkünfte gibt es auch. Gut, wenn man so spät dran ist, wie ich, muss man im Etagenbett halt oben schlafen, aber das überlebt man ja auch. Gibt auf jeden Fall schlimmeres.
Ich muss über Tag definitiv deutlich mehr trinken, ich habe ständig Durst. Aber so viel wie ich schwitze, kann ich gar nicht trinken – und ich kann auch schlecht immer 5 Liter Wasser mit mir rumschleppen. Heute habe ich mit einmal Nachfüllen 4 Liter geschafft und es war noch zu wenig. Vielleicht sollte ich das Wasser mit Mineraltabletten aufpeppen?
Natürlich habe ich ausgerechnet jetzt einen der Nasenflügel meiner Brille verloren. Das Ding war schon länger locker, aber es war ja irgendwie klar, dass das ausgerechnet jetzt passieren muss. Dann geht es in Pamplona halt auch noch zum Optiker. Unterwegs trage ich zwar meine Kontaktlinsen, aber für abends ist die Brille doch bequemer. …und morgens, wenn ich die Augen noch nicht richtig aufbekomme.
Am schlimmsten war heute aber der letzte Abstieg nach Zubiri. Nur Geröll, Steine und immer steil bergab. Bei jedem Schritt musste man aufpassen, wohin man tritt und dass man nicht wegrutscht. Zwischendurch schießen dann auch noch Rad-Pilger an einem vorbei. Ich war so froh, als endlich die berühmte Brücke am Ortseingang in Sicht kam. Die ganze Strecke über war ich heute damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und mich selbst zu motivieren, weiterzugehen. Landschaftlich war das sicherlich wieder absolut top, aber so richtig habe ich von der Landschaft links und rechts nur wenig mitbekommen.

Ab und an muss man dann aber doch Glück haben. Ich habe nämlich das letzte freie Bett in der Herberge erwischt. Dass es natürlich das obere Etagenbett ist, ist mir in dem Moment aber total egal. Da werde ich nämlich genau ein einziges Mal hoch klettern und mich dann für einige Stunden nicht mehr bewegen. Dafür bewege ich mich aber umso zügiger unter eine heiße und ausdauernde Dusche. Da das Fenster nur einen winzigen Spalt auf geht, fühle ich mich wie im Dampfbad. Herrlich. Maria, die Hospitalera, bietet mir an, schnell meine Wäsche mitzuwaschen, da sowieso gleich eine Maschine läuft. Da sage ich natürlich nicht nein. Anschließend gehe ich doch noch in ein Restaurant um die Ecke, um etwas zu Abend zu essen. Auch wenn ich nach wie vor überhaupt keinen Appetit habe, ich muss etwas vernünftiges essen, mein Energiespeicher läuft auf der Reserve der Reserve. Eigentlich würde ich gerne ein Bier oder ein Glas Wein trinken. Das lasse ich aber bleiben – wenn ich jetzt Alkohol trinken würde, läge ich wahrscheinlich keine zwei Minuten später schnarchend mit dem Kopf auf dem Tisch.
Zurück in der Herberge setze ich mich noch in den Gemeinschaftsraum, Tagebuch schreiben und Nachrichten lesen, zum schlafen gehen ist es noch zu früh. Anton aus Österreich (nein, nicht der aus Tirol) sitzt mir gegenüber und schnibbelt sich eine Einlage für eine Gemüsesuppe zurecht. Schätzen würde ich ihn auf etwa 75 Jahre. Er erzählt, dass er den Camino Francés “ohne Bestimmten Grund” jetzt schon zum 5. Mal läuft. Eigentlich eine coole Beschäftigung, um sich im Alter fit zu halten. Ich jedenfalls bin dann doch recht zeitig nicht mehr so fit, kraxele total umständlich auf mein Bett und schlafe trotz Licht und Lärm im Zimmer ein und schlafe wie ein Stein. Zumindest so lange, bis sich mein Knie bemerkbar macht. Aber dazu morgen mehr.