Camino Francés Tag 22 – Ich habe ’nen Platten

31. Oktober 2018 – Sahagún – Reliegos (30,7 km)

Guter Tag so alles in allem. Ich habe die Langstrecke in Angriff genommen. Bei angenehmem Wetter, trocken und nicht zu kalt, und einem guten Gefühl war das heute kein großes Thema. Zumal ich ausnahmsweise mal ordentlich zu Mittag gegessen habe. Die letzten 5 km waren aber trotzdem wieder mal schlimm. Erstens wollten und wollten sie einfach nicht vorbei gehen. Dazu kam dann noch, dass ich festgestellt habe, dass meine Schuhe durchgelatscht sind. An den Fersen ist nicht nur kein Profil mehr, da ist schon die ganze Sohle weg. Da hätte ich vielleicht mal eher nachschauen sollen, möchte wetten, dass das der Grund für meine Blasen ist. Schon komisch, das gleiche Modell Schuhe habe ich seit bestimmt 10 Jahren zu Hause und der einzige Grund, weshalb ich die kaum noch trage ist, weil inzwischen das Innenfutter hinüber ist. Aber die Sohlen sind bei dem Paar nicht mal halb so runter – und man kann wirklich nicht sagen, dass ich mit denen wenig gelaufen wäre, im Gegenteil. Jedenfalls habe ich mir, seit ich das festgestellt habe, eingebildet, ich würde jeden Stein noch stärker spüren. Morgen in León muss ich also auf jeden Fall neue Schuhe kaufen. Ich hoffe, das wird kein Akt, bei meinen großen Füßen… Ich überlege jetzt, ob ich die letzten 20 km noch irgendwie schaffe oder doch auf Bus oder Taxi umsteige. Ein Bus fährt hier im Ort nicht, erst 7 km im nächsten, dann aber schon um 8:15 Uhr morgens. Das würde morgens schon recht sportlich, wenn ich das bis dahin schaffen möchte. Zeitig aufstehen und zügig laufen. Der nächste Bus fährt dann erst um sechs Uhr abends, das ist also keine Option. Da könnte ich auch gleich versuchen, zu laufen und wäre noch früher da.

Ich sollte bei der Auswahl meiner Unterkunft ab und an besser aufpassen. Hier gibt es nämlich keine Heizung. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt draußen ist es drinn en also nicht viel wärmer. Heute Nacht heißt es also wieder warm anziehen und den Schlafsack bis über beide Ohren ziehen. In der kleinen Küche gibt es aber einen Elektroofen, der darf mal zeigen, was er drauf hat.

Ich hatte mich heute extra im Pilgerführer schlau gemacht, welche Herbergen vor León denn überhaupt offen haben, die Municipal in Reliegos sollte es jedenfalls sein. Als ich ankam, war der Laden aber erstmal zu, toll. Aber im gelben Buch stand auch eine Telefonnummer daneben, da war es doch endlich zweckmäßig, ein Handy dabei zu haben. Das Gespräch verlief aber eher merkwürdig – Nach meinem „Olá!“ ergoss sich ein spanischer Redeschwall einer der Stimme nach älteren Spanierin über mich. Da ich dem Stakkato mal so überhaupt gar nicht, nicht einmal ansatzweise folgen konnte, reichte es für mich nur zu einem „No hablo español“. Danach wurde es zumindest ruhiger im Hörer. Mein gestammeltes „Soy un peregrino. Albergue abierto?“ führte dann immerhin zu einem „Aaaaah, si!“. Dass sie das Gespräch danach abrupt beendete, brachte zwar keinem übermäßigen Optimismus meinerseits. Aber da vielleicht 2 Minuten später ein älterer Herr ums Eck kam und aufschloss, kann das alles ja nicht so verkehrt gewesen sein. Vor allem hat er sich gefreut wie ein Schneekönig, dass überhaupt ein Pilger aufgetaucht ist, da alle (naja, fast alle) anderen in der privaten Herberge zwei Straßen vorher übernachtet haben.

Ab morgen könnten die Auswahlmöglichkeiten bei den Herbergen auch noch weiter eingeschränkt sein, als ohnehin schon. Einige Herbergen haben ja bereits seit ein paar Wochen geschlossen, aber Ende Oktober schließen noch mehr Herbergen über den Winter. Zwar gibt es zumindest in den größeren Orten immer mindestens eine offene Herberge, aber unter Umständen muss ich meine Etappen auf dem weiteren Weg ein wenig anpassen.

Reliegos scheint ein typischer Ort zu sein, der nur dank der Pilger überhaupt überleben kann. Zwei Herbergen, zwei alte Bauernhöfe, ein paar, größtenteils verlassene oder zumindest vernachlässigte Häuser. Dazu dieser eine typische Dorfladen, winzig klein, hat aber alles, was man bzw. Pilger braucht. Tante-Emma-Feeling at its best! Die obligatorische Bar ist hier die „El Bar de Elvis“, eine verrückte Bar betrieben von einem verrückten Typen, heißt es – ich habe mich selbst allerdings nicht davon überzeugt, mir war weniger nach Bar, als vielmehr danach, eine Kleinigkeit zu Abend zu essen und dann Mal mein Tagebuch ein wenig zu überarbeiten. Außerdem wollte ich schauen, wo es sich in León gut unterkommen lässt. Gut, ja, ein bisschen Programm für das Sightseeing habe habe ich auch geplant.

Was mit heute stark aufgefallen ist: Seit Burgos gibt es deutlich weniger „Leichtpilger“, also diejenigen, die ihr Gepäck transportieren lassen und nur mit Tagesrucksack unterwegs sind bzw. die den Camino nur abschnittsweise gehen. Zumindest sind mir unterwegs deutlich weniger von der Sorte aufgefallen. Vielleicht hat die Meseta einige abgeschreckt, vielleicht war denen auch die Wettervorhersage zu schlecht. Bin mal gespannt, wie es dann ab León ausschaut.

Mir geht ja häufig nicht viel Sinnvolles durch den Kopf. Aber was ich heute während des Laufens bemerkt habe ist, dass sich fast alle meine Gedanken um Vergangenes drehen. Vergebene Chancen, Argumente in Diskussionen, die ich hätte anbringen können, Dinge die ich besser getan, anders getan oder besser gleich gelassen hätte. Ich sollte nicht der Vergangenheit nachhängen, sondern vielmehr darüber nachdenken, was kommt, was wird. Ich finde, das ist ein guter Vorsatz für die zweite Hälfte des Camino.

Mein Lowlight des Tages: Nach dem Mittagessen, noch nicht wieder warm gelaufen und immer noch ein bisschen steif und dazu noch mit meinen Stöcken und dem Poncho beschäftigt, habe ich mich gepflegt auf die Schnauze gelegt. Die Straße war regennass und wegen eines Wasserablaufs ein wenig abschüssig zur Seite hin. Bin einfach weggerutscht. Es ist aber glücklicherweise nichts passiert, wirklich Glück gehabt. Danach war ich dann jedenfalls wach. Wie immer am Camino war auch hier in dem ansonsten menschenleeren Dorf direkt ein hilfreicher Spanier zur Stelle, der mich gefragt hat, ob alles in Ordnung ist.

3 Gedanken zu “Camino Francés Tag 22 – Ich habe ’nen Platten

  1. Audrey im Wanderland – Bloggerin bei Audrey im Wanderland, meinem Fernwanderblog, auf dem ich fast 2.500 erwanderte Kilometer Etappe für Etappe zum Leben erwecke. Nach dem „Prinzip Lindenstraßen“ gibt es jeden Sonntag einen neuen Tagesbericht zum Nachlesen.
    Audrey im Wanderland

    Das ist ein ganz großartiges Motto. Die erste Hälfte für die Vergangenheit nehmen und die zweite für die Zukunft. Ich hoffe, du konntest es durchziehen! Bin gespannt, was Dir sonst noch für Erkenntnisse kommen, die du mitteilst

    1. Ja, das hat sogar hervorragend geklappt! Das war das einzige Mal, dass mir das so stark aufgefallen ist – habe mich dann nur gefragt „Warum eigentlich?“ und für den Rest des Weges überhaupt nicht mehr über die Vergangenheit nachgedacht. Als ob irgendwo ein Schalter umgelegt wurde. Manchmal ist der Camino sehr merkwürdig bzw. mysteriös.

      1. Audrey im Wanderland – Bloggerin bei Audrey im Wanderland, meinem Fernwanderblog, auf dem ich fast 2.500 erwanderte Kilometer Etappe für Etappe zum Leben erwecke. Nach dem „Prinzip Lindenstraßen“ gibt es jeden Sonntag einen neuen Tagesbericht zum Nachlesen.
        Audrey im Wanderland

        Das macht ihn ja so versammt großartig 🙂 Na dann bin ich sehr gespannt auf die Fortsetzung

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