Caminho Português Tag 9 – Vorneweg und doch nicht Erster

14. September 2020 – Arcade bis Portela (22 km)

Es hat schon was für sich, wenn man einen ganzen Schlafsaal für sich alleine hat. Nicht nur, dass ich meine Klamotten nach Herzenslust verteilen konnte, es schnarcht halt auch niemand, niemand läuft mitten in der Nacht aufs Klo, niemand steht um 5 Uhr morgens auf und man kann das Fenster die ganze Nacht über zum Lüften offen lassen. Kein Wunder, dass ich wirklich gut geschlafen habe.

Wir treffen uns zeitig zum Frühstück unten in der Bar. Mehr als das übliche Dreigestirn (Kaffee, Orangensaft und Croissant) bekomme ich aber nicht runter. Draußen ist es noch stockdunkel und – wir sind schließlich in Galicien, daher total ungewöhnlich – es nieselt ganz leicht. Bis wir aber mit unserem kleinen Frühstück fertig sind und unsere Rucksäcke geschultert haben, hat sich die letzte Regenwolke aber auch schon wieder verzogen. Für den Tag ist auch kein weiterer Regen angesagt, aber trotzdem einigermaßen trübes Wetter.

Dunkelstunde

Das kurze Stück durch Arcade bis runter ans Wasser kennen wir ja schon von unserem Strandbesuch gestern, da ist es nicht weiter schade, dass wir aufgrund der Dunkelheit nicht viel außerhalb des Lichtscheins der Straßenlaternen erkennen können. Hinter der nächsten Ecke sorgt das, was wir da erkennen können, aber für erstaunte Blicke, denn oben auf einem Zaun sitzen eine Reihe Truthähne und -hühner, nunja, wie eben die Hühner auf der Stange.

Der Blick von der Brücke über die Bucht ist im Hellen bestimmt ganz schön, jetzt allerdings eher unspektakulär, weil dunkel. Ein bisschen hinter der Brücke können wir schemenhaft ein paar Hórreos erkennen, die bei Licht betrachtet bestimmt auch ganz nett ausgesehen hätten. Aber so würdigen wir sie nicht weiter unseres Blickes und gehen weiter.

Ein Stück weit geht es noch mehr oder weniger flach weiter, bis es irgendwann einigermaßen heftig bergan geht. Erst noch an den letzten Häusern von Arcade vorbei über Pflaster, dann aber betritt man einen galicischen Zauberwald und es geht über Stock und Stein weiter. Es ist bei weitem nicht so eine Kletterei wie das Wegstück hoch zum Franzosenkreuz, aber so richtig in Tritt komme ich hier nicht wirklich und es geht entsprechend langsam voran.

Melina hat sich heute früh ganz gut gefühlt, aber durch den unebenen Weg schmerzen ihre Füße doch recht schnell wieder stark. Jann bleibt bei ihr und ich hole mir die Erlaubnis, vorweg zu gehen, weil es mir ansonsten deutlich zu langsam wäre. Wäre ich mit Melina alleine gewesen, wäre das natürlich was anderes gewesen, aber so kann ich mein Tempo gehen. Heute Nachmittag in der Herberge sehen wir uns ja ohnehin wieder.

Alone again

Ist man dann endlich oben, das Gipfelchen nennt sich Alto da Canicouva, geht es durch den Wald gemütlich bergab, bis man zu den ersten Ausläufern von Pontevedra kommt. Ab da geht es ein gutes Stück an einer wenig befahrenen Straße entlang. Zwar gibt es hier irgendwann die Möglichkeit, einen Umweg zu gehen, der dafür ein bisschen idyllischer am Flüsschen Tomeza verläuft, aber heute kann ich mich für Umwege nicht wirklich begeistern. Das eine Auto alle paar Minuten stört mich nicht groß und die Sonne versteckt sich heute auch größtenteils hinter den Wolken, da ist fehlender Schatten heute ausnahmsweise auch kein Thema.

„Highlights“ gibt es bis Pontevedra nicht mehr unbedingt, sieht man von einem mit Pilgerutensilien geschmückten Wegkreuz ab und einem sehr merkwürdigen Hórreo. Die stehen nämlich für gewöhnlich ein bisschen abseits und frei. Dazu noch auf Säulen mit ausladenden Kapitellen, damit Tiere weder von oben noch von unten oder der Seite an das, was auch immer im Inneren gelagert wird (früher meistens Getreide), herankommen. Das spezielle Exemplar weist nicht nur eine Treppe auf, sondern gleich auch noch eine überdachte Terrasse und einen Anbau. Erinnert ein wenig an ein Stein gewordenes Spielzeughäuschen.

Dadurch, dass es heute so bedeckt ist, halten sich die Temperaturen in einem sehr erträglichen Rahmen. Es ist zwar immer noch sehr warm, aber eben nicht mehr heiß. Dafür ist die Luftfeuchte allerdings extrem hoch. Ich habe glaube ich noch nie so extrem geschwitzt beim pilgern oder wandern. Mein Shirt kann ich auswringen und meine Hose ist durchgeschwitzt. Selbst die Schlaufen meiner Wanderstöcke tropfen! Alles ist irgendwie nass und klebt. Bäh!

Die erstbeste Gelegenheit für eine Pause nutze ich dann auch nicht nur, um mir einen Kaffee zu gönnen, sondern auch, um im Bad zu verschwinden und mich einigermaßen frisch zu machen. Ohne Dusche und Waschmaschine klappt das natürlich nur bedingt, aber es ist besser als nichts. Die Bar heißt Casa de Pepe und ich muss innerlich lachen, als ich mir vorstelle, dass Pepe hier jetzt um die Ecke kommt und Blätter fegt.

Putzteufel bei der Arbeit

In Pontevedra herrscht Maskenpflicht im gesamten Stadtgebiet. Schilder am Wegesrand weisen hier explizit darauf hin. In der Stadt selbst begegnet mir dann auch niemand, der ohne Maske unterwegs ist. Die Disziplin ist, was das angeht, wirklich vorbildlich.

Auch wenn die historische Innenstadt ganz schön ist, die Stadt an sich ist ein bisschen ätzend, mir ist sie nach den letzten Tagen einfach zu voll. Der Caminho führt durch die Fußgängerzone, also genau durch die Stadtmitte, entsprechend viel ist hier los. Ich komme gar nicht erst in Versuchung, hier Pause machen zu wollen.

Allerdings möchte ich mir das Sanktuarium der Virxe Peregria gerne anschauen. Hier habe ich Glück, denn eigentlich ist die Kirche wohl geschlossen. Allerdings steht die Türe offen und ich kann hinein spingsen. Drinnen sind zwei alte Damen bzw. – ohne jemandem auf die Füße treten zu wollen – eine alte Dame und eine sehr alte Dame. Die eine wischt Staub, die andere saugt Staub. Ich mache mich bemerkbar und beide strahlen mich an. Verständlich machen kann ich mich allerdings nicht wirklich, denn beide sprechen nur galicisch. Mit ein bisschen Gebärdensprache klappt aber auch das irgendwie und ich bekomme sogar einen Stempel in meinen Pilgerpass. Für alles andere bin ich zu wenig gläubig, um der Darstellung der jungfräulichen Pilgerin etwas abgewinnen zu können. Die Figur wirkt auf mich wie eine kitschige Version einer dieser Puppen, denen die Augen zufallen, wenn man sie hinlegt.

Soweit ich die beiden verstehe, würden sie aber doch gerne weiterarbeiten, also halte ich mich auch gar nicht lange in der Kirche auf. Direkt hinter mir fällt dann auch die Tür ins Schloss. Alle Pilger, die heute nach mir hier ankommen, haben wohl Pech gehabt.

Im Zauberwald

Aus der Stadt raus wird es recht zügig wieder grün. Die Zivilisation lässt einen aber noch nicht vollständig los, denn der Weg verläuft mehr weniger parallel zu einer Eisenbahnlinie. Hinter einer Unterführung steht dann unübersehbar eine große Hinweistafel, dass hier der Camino Espiritual abzweigt. Von dieser Variante habe ich schon mehrfach gehört, allerdings komplett Widersprüchliches. Die Bandbreite reicht hier von „total schön“ bis zu „brauche ich nicht noch Mal“. Was daran das Spirituelle sein soll, konnte mir bisher auch niemand erklären. Aber ein Umweg von über 30 km und eine Bootsfahrt für 20€ (wenn das Boot denn in der Nebensaison fährt, ansonsten sind es noch Mal 35 km entlang einer Straße) locken mich überhaupt nicht. Für mich geht es den normalen Caminho Português weiter geradeaus.

Ab hier wird es dann wieder richtig schön ländlich und der Zauberwald hüllt einen wieder ein. Es ist so schön hier! Auch wenn es wieder ein wenig bergan geht. Die Luftfeuchte ist allerdings nicht weniger geworden, also schwitze ich weiter vor mich hin. Was aber egal ist, denn meine Klamotten sind ja eh schon patschnass. Dafür genieße ich den Luxus, hier die Stille alleine im Wald genießen zu können.

Kurz vor Portela kehre ich noch für ein schnelles Mittagessen ein. Die Herberge in Portela liegt ein bisschen abseits, da werde ich wohl nicht großartig etwas bekommen. Also setze ich mich bei Don Pulpo auf die Terrasse. Warum es ausgerechnet hier, mitten im Nichts eine Bar gibt, die Pulpo verkauft? Weiß der Geier. Ist mir aber auch egal, denn ich liebäugle ohnehin mit einem Bocadillo. Wenn das auch nur halb so lecker schmeckt, wie das von den beiden Bauarbeitern am Nachbartisch aussieht und riecht, kann ich damit gar nichts verkehrt machen. So ist es dann auch, ich bin satt und es war lecker. Auch hier greife ich mir einen Stempel ab, irgendwo habe ich gelesen, es sei der älteste des gesamten Caminho Português. Das bezweifle ich aber doch arg. In Kirchen, Klöstern und Pfarreien gibt es garantiert noch ältere Stempel oder Siegel, die man sich auch bestimmt in den Credential drücken lassen kann.

Guckuck!

Das letzte Stück bis zur Herberge von Portela gehe ich ganz gemütlich und entspannt. Man muss ein bisschen aufpassen, dass man richtig geht, denn die Herberge liegt nicht direkt am Jakobsweg, die Strecke dorthin ist aber auch mit gelben Pfeilen markiert. Man sollte also schon den richtigen folgen.

Von der Straße geht es eine Auffahrt links runter, am schmucken Häuschen vorbei, bis in einen kleinen, hübschen Garten. Vor der Türe steht ein Schild, dass man bitte nicht ungefragt das Haus betreten, sondern sich vorher bemerkbar machen soll oder im Zweifel die angegebene Handynummer anrufen soll.

Ich rufe also erst einmal ganz laut ¡HOLA! – und von drinnen antwortet mir eine Frauenstimme mit „Jahaaaa!“ Moment Mal, die Stimme kenne ich doch? Tatsache – Melina guckt aus der Türe und grinst mich an.

Mit ihren Füßen ging es irgendwann überhaupt nicht mehr und sie wurde immer langsamer. Jann hat sie dann in Pontevedra in ein Taxi gesetzt, nachdem sie sich in einer Apotheke noch Entzündungssalbe gekauft hat und sie ist bis hierher gedüst. klar, dass sie dann vor mir hier ist.

Das freut mich zwar, löst aber das Problem mit dem „nicht ungefragt betreten“ nur bedingt. Denn der Hospitalero, Jorge (ja, ich muss auch dauernd an Jorge Gonzalez denken), ist zur Zeit nicht da, denn er holt seine Tochter von der Schule ab. Ich rufe also die Handynummer an, verklickere Jorge, wer ich bin und er meint nur, Melina kenne sich ja aus, sie solle mir einfach alles zeigen, einchecken könne ich dann später wenn er wieder da ist. Auch gut, dann kann ich wenigstens gleich duschen gehen.

Der Rucksack muss hier in einen schwarzen Plastiksack gesteckt werden, auch die Schuhe kommen in eine Tüte. Das mag wie auch immer die Verbreitung von Viren eindämmen, sorgt aber dafür das hier nichts richtig trocknen kann. Zumindest die gewaschene Wäsche darf draußen im Garten auf der Leine frische Luft genießen.

Nach einer Weile, ich sitze gerade gemütlich im Garten und schreibe Tagebuch, taucht Jorge dann tatsächlich auf und ich kann meine Anmeldeformalitäten erledigen. Wer aber noch nicht aufgetaucht ist, ist Jann. Der trudelt noch eine ganze Weile später ein und sieht einigermaßen fertig aus. Er hat sich auch heute wieder verlaufen. Da sage ich jetzt nix zu. Auf jeden Fall musste er einen Berg, den er fälschlicherweise runter gegangen war, auf dem Rückweg wieder hoch.

Abendessen mit ungebetenem Besuch

Die Herberge in Portela ist in normaleren Zeiten auch fast so eine Institution, wie Fernanda. Leider fällt das gemeinsame Abendessen drinnen aus, denn wie in fast allen anderen Herbergen bleibt die Küche kalt. Jorge hat aber einen Trumpf in der Hinterhand – nämlich einen Lieferservice für spanisch-galicische Spezialitäten. Da das Wetter sich zum Nachmittag hin immer weiter verbessert hat und es wirklich angenehm ist, draußen zu sitzen, nehmen wir das Angebot dankend an.

Wir, das sind heute neben Jann, Melina und mir noch ein Pärchen aus Madrid (Luisa und, da niemand sich seinen Namen gemerkt hat, Zitat Jann: „Nennen wir ihn doch einfach Juan“) und zwei Mädels aus Polen, genauer aus Posen. Allesamt verteilen wir uns im Garten um den großen Tisch und warten auf unser Essen.

Ich probiere das erste mal Zorza. Von dieser galicischen Spezialität haben selbst unsere Mitpilger aus Zentralspanien noch nichts gehört. Es ist das magere aber dafür intensiv gewürzte Fleisch, dass sonst in die Chorizo kommt. Echt lecker. Kommt in der von mit bestellten Aufmachung mit Brötchen und einem Salatblatt ein bisschen wie die spanische Version eines Kebap daher. Dazu lassen wir uns eine große Portion Serrano und Käse kommen, als Fingerfood für alle. Weil wir schon so schön dabei sind, lassen wir uns auch gleich noch eine angemessene Menge Bier liefern. Abendessen im Selbstbaukastensystem.

Die Gesprächsthemen sind heute ungewohnt gesellschaftspolitisch. Angefangen hat es mit dem Unterschied zwischen te quiero und te amo vs. ich liebe Dich und ich hab‘ Dich lieb, geht dann über die Anwendung von Bitteschön, bitte sehr und Danke sehr hin zu der Feststellung, dass sich Portugiesisch für Polen anhört, wie genuscheltes Polnisch, während es sich für Spanier anhört, wie genuscheltes, betrunkenes Spanisch mit komischen Wörtern dabei. Irgendwie sind wir dann in eine Diskussion über Nationalstaaten, Nationalismus, die EU, die Zukunft und überhaupt übergegangen. Sehr bedeutungsschwanger, dieser Abend. Konsens ist jedenfalls – und das trifft wahrscheinlich auf die überwältigende Mehrheit der europäischen Pilger zu und macht mir wirklich Hoffnung für die Zukunft – wir alle fühlen uns als Europäer und haben echt nur wenig Verständnis für Nationalismus oder die verschiedenen separatistischen Ambitionen.

Zwar wird es irgendwann nach Sonnenuntergang doch recht frisch und klamm, aber mit einer Jacke geht es. Das erste Mal auf diesem Jakobsweg, dass ich meine Jacke aus dem Rucksack pule. Schlimmer sind aber die Fliegen. Nicht nur, dass die Viecher ziemlich nervend um einen herumschwirren, es sind tatsächlich gar keine Fliegen, sondern Wadenbeißer, d.h. Stechfliegen. Zum Glück jucken die Stiche nicht oder führen zu Schwellungen, so wie es bei Mücken der Fall ist, dafür tut es einfach nur fies weh, wenn die Biester sich bedienen. Um nicht komplett dem Vampirismus zum Opfer zu fallen, verziehen wir uns nach drinnen. Lange dauert es dann nicht mehr und wir liegen in der Falle.

Um Melinas Füße ein wenig zu schonen, wollen sie und Jann morgen nur eine kurze Etappe gehen – wenn überhaupt. So schade das ist, dass ich dann wohl alleine nach Santiago weiterziehen werde. aber wer weiß schon, was noch alles so passiert? Der Caminho ist bisher so außerordentlich toll gewesen, da wird es sich auch für die kommenden Tage fügen, da bin ich mir absolut sicher.

4 Gedanken zu “Caminho Português Tag 9 – Vorneweg und doch nicht Erster

  1. Lieferservice mit regionalen Spezialitäten, das nenne ich eine pfiffige Antwort auf die Corona-Regeln. Da läuft mir gleich das Wasser im Munde zusammen.

    Bei dem Luxus-Hórreo handelte es sich bestimmt um das Domizil der Truthähne.

    1. Ja, das wäre auch hierzulande eine echte Alternative zu den immer gleichen Döner- und Pizza-Lieferservices… Dann würden bestimmt 1x in der Woche Tapas auf meinem Speiseplan stehen. 😏

      Ich habe zu Hause Mal auf der Karte nachgeschaut – gleich nebenan des Hórreo ist eine Herberge. Vielleicht ist das ja auch das Ausweichquartier für schnarchende Pilger?

  2. Audrey im Wanderland – Bloggerin bei Audrey im Wanderland, meinem Fernwanderblog, auf dem ich fast 2.500 erwanderte Kilometer Etappe für Etappe zum Leben erwecke. Nach dem „Prinzip Lindenstraßen“ gibt es jeden Sonntag einen neuen Tagesbericht zum Nachlesen.
    Audrey im Wanderland

    Hach, ich konnte so viel rekonstruieren – dieses leicht genervte Gefühl, wenn man durch die Fußgängerzone muss, Squaredance-Mary in der Kirche, Don Pulpo und natürlich Jorje und seine Superbude. Wirklich schade, dass ihr da Bier hattet. Der Wein wird mir nämlich immer im Gedächtnis bleiben (bzw das Leergut am nächsten Morgen) und die coole Wand, auf der sich alle verewigt haben. Hach … das ist echt schön, noch mal die Stationen mit dir abzulaufen und parallel meine eigenen Ergebnisse abzuchecken. Danke 😍

    1. Sehr gerne 🤗

      Den Wein habe ich (bzw. haben wir) dann in Fisterra probiert. Hatte das Etikett wiedererkannt und dachte, so schlecht kann der ja dann gar nicht sein 😉

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