Caminho Português Tag 10 – Sololauf

15. September 2020 – Portela bis Pontecesures (28 km)

Spanien war heute sehr früh wach. Immerhin haben die beiden sich beim Rucksackpacken Mühe gegeben, leise zu sein. Polen und der Großteil Deutschlands lagen noch ratzend in den Federn. Ich drehe mich zwar noch ein, zwei Mal um, aber irgendwann will ich dann aber doch los. Das Rucksack *leise* packen ist dabei eine echte Kunst, denn das gute Stück will ja auch zuerst aus dem Plastiksack befreit werden. Aber auch das klappt irgendwie (zumindest hat sich niemand beschwert 😇).

Ich will gerade meine Maske anziehen, da flitscht mir eines der Ohrgummis ins Gesicht. Toll, ich darf also im Dunklen noch im Rucksack nach einer anderen Maske suchen. Aber wenigstens ist Melina in der Zwischenzeit schon wach geworden, sodass ich mich ordentlich von ihr verabschieden kann.

Ob sie und Jann heute überhaupt pilgern oder ob sie beide einen Tag Pause machen oder ob er geht und sie fährt, das wollen die beiden nachher erst entscheiden. Zumindest haben sie grob Caldas de Reis angepeilt. Das sind 12 Kilometer – für Melina vielleicht schon grenzwertig, für mich auf jeden Fall zu wenig.

Um-Schnecken-rum-rennen

Draußen geht gerade die Sonne auf, es ist ungefähr halb 8. Die Luft ist einfach wunderbar und auch der Farbzauber, den die Sonne in der Früh an die Wolken zaubert, ist nicht zu verachten.

Galicien hat sich heute in der früh wieder für einen kurzen Moment hinreißen lassen und hat ein bisschen Nieselregen spendiert. Aber wie auch gestern, braucht es auch heute nicht Mal Regen-Equipment. Das schöne Morgenrot ist aber leider auch nur ein kleiner Lichtblick, denn der Rest des Tages ist eher grau in grau, was mich aber überhaupt nicht stört.

Durch die Feuchtigkeit haben sich ganz viele Schnecken von groß bis klein, mit und ohne Haus auf den Weg gewagt. Ich habe wirklich versucht, immer vorsichtig zu sein. Aber ich kann leider nicht garantieren, dass ich nicht doch das eine oder andere von den kleinen Tierchen zertreten habe – denn ab und an habe ich dann doch nicht nur auf meine Füße, sondern nach vorne geschaut…

Der galicische Zauberwald setzt sich heute früh fast ansatzlos fort. Aber ich gebe ihm trotzdem nur 3,5 von 5 Hexenhüten. Ganz einfach weil es heute nicht ganz so ursprünglich und weniger „hohlwegig“ im Vergleich zu gestern. Einen ganzen Hut Abzug gibt es für die Geräuschkulisse. Rechts vom Weg probt nämlich das örtliche Stihlfonieorchester gerade das Stück „Axt im Walde“ und steigert sich nach und nach in ein Kettensägencrescendo. Auf der anderen Seite werkelt irgendwo eine Maschine, die sich anhört, als würde jemand ins Horn von Gondor stoßen. Wenn die Reiter Rohans auftauchen, könnten die mich ja vielleicht ein Stück mitnehmen?

Kopfkino und Musik

So schön die Gegend auch ist – alleine Pilgern ist manchmal halt auch doof. Zum ersten Mal auf diesem Jakobsweg schweifen meine Gedanken heute in Richtung Arbeit ab. Was meine Kollegen bis heute alles geschafft haben sollten, was vielleicht schiefgegangen ist, was alles auf meinem Tisch gelandet sein könnte. Und so weiter, und so fort.

Ich schaffe es aber glücklicherweise, die Gedanken recht schnell zu verdrängen. Schließlich sind die Kollegen alle kompetent und wissen meistens, was sie tun. Außerdem kann (und will!) da jetzt nichts dran ändern, selbst wenn ich nicht 1.000 Kilometer weit weg wäre. Zu guter Letzt macht mein Chef höchstpersönlich meine Urlaubsvertretung. Wenn also wirklich etwas schief laufen sollte, bin ich jedenfalls nicht Schuld. Also ziehe ich mir meine Kopfhörer über, schalte Musik ein und ziehe fröhlich meines Weges.

Kurz vor Caldas de Reis gönne ich mir meine erste Kaffeepause. Die Wirtin bietet mir auch einen Pilgerstempel an – aber der schaut aus, wie von „stempel-online“ oder etwas in der Art in 2 Minuten selbst zusammengestümpert. Selbst für einen Adressstempel ist das Teil echt hässlich. Auch wenn die Dame ein wenig pikiert aus der Wäsche schaut, ich lehne beherzt ab. So was kommt mir nicht in den Pilgerpass.

Caldas de Reis ist so semi-spannend. Aber ich verbringe mehr Zeit, als beabsichtigt in dem Städtchen, denn ich drehe eine Extrarunde. In der Touristeninformation möchte ich mir einen Stempel abholen, denn die Kirche hat geschlossen und wenigstens zwei Stempel am Tag sollten es alleine schon aus Prinzip sein. Ich folge daher den Wegweisern und stehe kurz darauf vor einem Schild, dass ankündigt „Wir sind umgezogen“. Ja toll. Für die neue Anschrift bemühe ich die Navigation auf meinem Handy. Da die Adresse nicht allzu weit entfernt liegt, tapere ich da auch noch hin. Aber wie sollte es anders sein – der Bums hat zu. Der Bums sollte aber offen haben! Sagen zumindest die allgemeinen Öffnungszeiten. Auch irgendwelche Hinweise, die darauf schließen lassen könnten, dass aufgrund von Corona geschlossen ist, finden sich nicht. aber gut, ist halt Spanien. Mañana. Gibt es halt keinen Stempel.

Hinter Caldas de Reis geht es dann für die kommenden Kilometer kontinuierlich immer ein wenig bergauf, abgesehen von einem kleinen Stück vor dem Ort O Cruceiro, auf dem es ein wenig sehr, will sagen: steil, bergauf geht. Kurz danach liegt die wunderschöne Igrexa de Santa María de Carracedo am Weg. Das ganze Setting – die alte, kleine Kirche, die grüne Wiese mit den grasenden Ziegen davor, die Palmen, das blaue Himmel, das verfallene Häuschen daneben, könnte in meiner Vorstellung genau so irgendwo in der Karibik stehen. Das alles schaut aus, als hätte Kolumbus es höchstpersönlich hierher verpflanzt.

Weil ich es hier so schön finde und weil ich eh finde, dass es Zeit wird, mache ich hier auch gleich ein Päuschen und setze mich auf die Kirchenmauer unter einen der riesigen alten Bäume. Weil ich es absolut nicht eilig habe, lege ich mich auch ein bisschen hin und lausche meiner Musik. Passenderweise schmettert Mr. Mister just in diesem Moment ihr „Kyrie“ in meine Ohren. Ich drehe gleich noch ein bisschen lauter.

Läuft

Nach meiner ausgiebigen Pause möchte Galicien wohl die Schmach von heute Vormittag wett machen und legt sich ins Zeug. Es schafft aber nur eine Steigerung auf 4 Hexenhüte. Die Landschaft hat eindeutig die volle Punktzahl verdient. Abzüge in der B-Note gibt es aber für die unnötig häufig gepflasterten Wege und die zwischendurch immer Mal wieder präsente Geräuschkulisse der nahen Autobahn. Aber auch so ist es heute wirklich ein traumhafter Pilgertag – waren die letzten Tage ja auch häufig, aber inzwischen sind auch die Temperaturen so langsam in dem Bereich, in dem ich anfange, mich wohlzufühlen.

Es läuft heute gut. Wirklich gut. Das ist fast schon unheimlich. Hätte ich mir vorher nicht in den Kopf gesetzt, in Pontecesures zu bleiben, hätte ich gut bis Padrón weitergehen können. Die zwei Kilometer mehr wären wirklich drin gewesen, aber in der Stadt gibt es zur Zeit scheinbar keine günstigen Unterkünfte. Da ich nicht einsehe, über 40€ für eine Übernachtung zu bezahlen, fällt meine Wahl daher auf die öffentliche Herberge in Pontecesures.

Viel lieber hätte ich im Kloster von Herbón übernachtet. Aber die Option fällt leider der Pandemie zum Opfer – das Kloster hat bis auf Weiteres seine Tore für Besucher geschlossen. Das ist wirklich extrem schade, da der Aufenthalt hier ein echtes Erlebnis sein soll. Aber gut, dann bleibt noch was fürs nächste Mal 😉

In Pontecesures angekommen, stehe ich vor einem Baustellenschild bzw. einer eher halbherzigen Absperrung. Die Straße ist komplett aufgerissen, anscheinend wird die Drainage oder der Kanal hier neu gemacht. Es sind aber keine Bauarbeiter zu sehen, also bin ich so frei und schlängele mich um die Absperrung herum. Am Ende der Straße steht nämlich die Herberge und ich habe wenig Motivation, mir jetzt noch eine Umleitung zu suchen.

Da sich keine offenen Baugruben oder schweres Baugerät in den Weg stellen, ist auch dieses Hindernis schnell umschifft und ich stehe vor der Herberge. Die abgeschlossen ist. Ähm?

Wie schon bei der Herberge in Mos musste ich auch hier über die Webseite der Regionalregierung reservieren. Ich habe auch eine Bestätigung bekommen, also *sollte* hier offen sein. Nun gut, im gelben Buch ist eine Telefonnummer angegeben, die ich direkt anrufe. Was ein Glück, dass Jolanda, die Hospitalera sehr gut Deutsch spricht, da ist es gar kein Problem alles Weitere abzuklären. Sie hat mich halt einfach nicht so früh erwartet (es ist schon nach 15 Uhr!) und war schon schnell in der Stadt, einkaufen. Ich sage ja: Mañana.

…und ja. Sie hat mich nicht so früh erwartet. Einzahl. Denn andere Pilger gibt es hier heute nicht. Laut Pilgerführer ist diese Herberge auch in „normalen“ Zeiten schon eher wenig besucht, wahrscheinlich, da Padrón und Herbón deutlich attraktiver sind. Schade eigentlich, denn die Herberge ist wirklich in Ordnung, also modern und sauber. Jolanda ist zudem noch wirklich herzlich. Sie steckt mir sogar ihr WLAN-Passwort zu, da der Gast-Login nicht funktioniert. Eigentlich sollte man eine Bestätigungs-SMS mit einem Passwort zum Freischalten bekommen, aber die SMS kommt auch nach drei Versuchen nicht bei mir an. Also surfe ich jetzt bei ihr mit.

Ich habe die Herberge auch für den Rest des Tages und die Nacht für mich. Abgesehen davon, dass es mir wieder sehr unangenehm ist, Jolanda hier ganz alleine Umstände zu machen, bietet sich dadurch auch das mit weitem Abstand traurigste Bild meines Caminho. Reihenweise leere und abgesperrte Betten im Schlafsaal. Das ist wirklich ein Bild zum Heulen:

Ich habe dementsprechend die freie Bettwahl und beziehe eines in der hintersten Ecke, aber direkt am Fenster. Rund um das Fenster deponiere ich alles, was gelüftet werden muss. Die Wäsche kommt diesmal nicht wie sonst mit mir unter die Dusche, sondern ich füttere die Waschmaschine der Herberge. Für den Einmarsch in Santiago kann es ruhig vernünftig saubere Wäsche sein.

Während meine Wäsche hoffentlich sauber wird, ziehe ich mir meine Schluppen an und gehe runter in die Stadt. Ich habe Hunger, außerdem möchte ich mir noch etwas zu trinken kaufen, das nicht pures Wasser oder Kaffee ist. Die Auswahl an Bars ist zwar ganz ok, aber so richtig zusagen mag mir keine. Aber im Supermarkt um die Ecke gibt es einen kleinen Bäcker – und der hat frische Empanadas!. Da brauche ich gar nicht lange zu überlege und kaufe mir gleich zwei Stücke für mein Abendessen – eines mit Gemüse und eines mit Thunfisch. Die schnabuliere ich gemütlich in der Herberge. Vielmehr: Vor der Herberge. Denn ich setze mich auf eine Bank neben dem Eingang in die Sonne, hole von drinnen noch schnell mein Tagebuch und klinke mich für die nächsten Stunden vom Lauf der Welt aus.

Nachtgedanken

Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich morgen in Santiago ankommen möchte. Sollte ich vielleicht vorher irgendwo Halt machen und die letzten Kilometer dann erst übermorgen pilgern? Dann ziemlich früh ankommen, direkt die Compostela abholen und gleich weiter nach Finisterra?

Was die Länge angeht, wäre es absolut kein Thema, morgen Nachmittag einzutrudeln. Es sind ungefähr 27 Kilometer und die sollten halbwegs locker drin sein, selbst wenn es nicht so gut läuft wie heute.

Mir geht momentan die Vorfreude auf das Ankommen in Santiago total ab, denn die Stadt ist ja nicht mein endgültiges Ziel auf diesem Weg. Andererseits freue ich mich auf die Stadt an sich, denn ich finde sie wirklich schön. Also, was tun?

Ich liege abends im Bett und frage meinen Pilgerführer um Rat. Ebenso Google. Lässt es sich vor Santiago vielleicht irgendwo schön einkehren? Ich habe mehr als genug Zeit und kann mir den zusätzlichen Tag auf dem Português erlauben. Aber das ist doch nichts Halbes und nichts Ganzes – dann sitze ich vielleicht morgen Nachmittag irgendwo JWD rum, weiß nichts mit mir anzufangen und bin vielleicht wieder alleine in einer Herberge? Nichts da – morgen geht es nach Santiago, basta!

Die Frage, ob ich wie irgendwann Mal angedacht, in Santiago dann sogar noch einen Tag Pause mache oder anderntags weiter pilgere, beschäftigt mich auch noch eine Weile. Aber irgendwann bin ich so müde, dass ich über der Frage einfach einschlafe. Um das zu klären, ist morgen ja auch noch genug Zeit.

2 Gedanken zu “Caminho Português Tag 10 – Sololauf

    1. Naja, wenn Wetter, Strecke und Gemüt passen, ist das – zumindest für mich – absolut im Rahmen. Zumal die beiden Tage vorher ja auch eher gemütlich kurz waren.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen