Muxía ja, Camino nein

22. September 2020 – Fisterra nach Muxía

Ich werde heute mit dem Bus nach Muxía fahren. Im Rückblick war mir das wohl schon gestern Abend klar. Ich bin den Weg bis dahin gelaufen, wo ich hin wollte, jeden einzelnen Meter. Ich kann nicht sagen, dass ich das Beste draus gemacht habe, einfach aus dem Grund, dass es selbst ohne mein Zutun viel, viel besser war, als ich mir jemals erträumt hätte. Was also soll da noch kommen? So zufrieden, wie ich gestern war und heute noch bin, das lässt sich wohl kaum steigern.

Heute nach dem Aufwachen hat sich das Gefühl noch verstärkt – und es beschäftigt mich in der Früh doch ziemlich. Aber ich bin am Ziel. Die Luft ist einfach raus, ich kann mich heute einfach nicht mehr motivieren, mehr als unbedingt nötig, zu Fuß zurückzulegen.

Strategisch wäre es wahrscheinlich besser gewesen, zuerst nach Muxía und erst dann weiter nach Fisterra zu gehen. Die Strecke bis Muxía wäre von hier aus ein ordentlicher Tagesmarsch von etwa 30 Kilometern. Selbst wenn es nur halb so weit wäre – außer, dass ich dort bisher noch nicht war, zieht mich im Moment eben dort nichts hin. Fisterra bzw. das Kap Finisterre war mein Ziel und auf dem Weg zu diesem Ziel hat sich mein „Glücksspeicher“ bis zum Bersten gefüllt. Man soll ja auch aufhören, wenn es am schönsten ist, oder? Letztlich fällt mir die Entscheidung aber recht leicht, denn ich schlafe sogar noch einmal ein.

Urlaubstrip

Also habe ich mit einem Mal ganz viel Zeit und einen sehr entspannten Tag vor mir. Gemütlich Duschen gehen – und das morgens, auf dem Camino total ungewohnt – und den Rucksack einmal aus- und vernünftig wieder einpacken. Das meiste Zeug brauche ich ja jetzt nicht mehr, daher wandern auch meine Stöcke an die Seite des Rucksacks.

Dann steht in Ruhe frühstücken auf meiner zugegeben sehr kurzen Liste für heute. Auch wenn ich Farbe und Muster kein Stück weit besser finde, als gestern, das Frühstück hat ganz einfach überzeugt. Also warum nicht auch heute wieder opulent speisen? Ich setze mich also wieder ins Blumenladen-Café und genieße. Allerdings lasse ich heute wenigstens den Milchshake weg. Dafür gönne ich mir einen zweiten und sogar noch einen dritten Kaffee, denn eilig habe ich es absolut nicht. Schließlich fährt der Bus erst gegen Mittag. Während ich hier sitze und genieße, recherchiere ich ganz entspannt, dass ich in Cee umsteigen muss und dass ich hier in Fisterra die Karte am Schalter kaufen muss, während es die Karte für den Anschlussbus nach Muxía in Cee direkt im Bus zu kaufen gibt. Weil es so schön ist, buche ich mir auch gleich ein Bett in einer Herberge für die Nacht in Muxía.

Ich gehe sehr zeitig zur Bushaltestelle, aber mit Hinsetzen ist dort erstmal nicht viel, denn hier wird gerade feucht durchgewischt oder besser gesagt: mit dem Hochdruckreiniger alles abgespritzt. Ich bin nicht der einzige Pilger, der heute mit dem Bus fahren wird, wobei die meisten wahrscheinlich zurück nach Santiago fahren werden. Unvermittelt tauchen Melina und Jann auf! Ich freue mich total, bin aber doch ein wenig verwundert, schließlich wollten sie heute morgen schon den ersten Bus nach Santiago nehmen. Aber klar, sie hatten auch keine große Lust, früh aufzustehen. Zumindest bis Cee sitzen wir also im selben Bus. Während sie dann bis Santiago weiterfahren, steige ich in Cee aus. Diese zufällige Begegnung ist für mich die letzte Bestätigung, dass meine Entscheidung die richtige ist – als ob ich die noch gebraucht hätte!

Die Strecke, für die ich ich gestern drei Stunden gebraucht habe, schafft der Bus in 20 Minuten, wobei er davon fünf schon alleine für das Wendemanöver im Hafen von Fisterra benötigt. Da der Halt in Cee nicht lange dauert und wir nicht Schuld an einer Verspätung sein wollen, fällt die Verabschiedung recht knapp aus. Aber wir wissen ja, dass wir uns in Porto wiedersehen werden.

Die Viertelstunde Wartezeit in Cee geht schnell vorbei, dann schließt die Fahrerin den Bus auf, ich kaufe bei ihr mein Ticket und mache es mir neben meinem Rucksack gemütlich. Auch Richtung Muxía bin ich heute nicht der einzige Pilger. Da die Fahrt nur knapp 30 Minuten dauert, komme ich gar nicht richtig dazu, die Landschaft, die am Fenster vorbeifliegt, zu genießen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass ich ein bisschen seekrank werde. Eigentlich bin ich hart im Nehmen, aber der Fahrstil und die Streckenbeschaffenheit bringen meinen Magen doch hart ans Limit.

Von der Haltestelle in Muxía aus ist es ein Katzensprung bis zu meiner Herberge. Eingecheckt ist auch schnell und… Ja eigentlich nix und, denn ich lege mich aufs Bett und döse. Ich habe es immer noch nicht eilig. Am frühen Nachmittag raffe ich mich dann nun doch auf und gehe zumindest die letzten paar 100 Meter zu Fuß zum Heiligtum von Muxía.

Die Landschaft ist sehr karg, aber doch sehr schön. Viel faszinierender finde ich allerdings das Tosen des Atlantik. Während man am Kap Finisterra gut 150 Meter über dem Wasser war, könnte man hier direkt hineinspazieren.

Das Denkmal für die durch die Havarie der Prestige verursachten Ölpest ist mit seiner Höhe und „Wuchtigkeit“ beeindruckend. Hier steht direkt davor ebenfalls ein „0 km“-Stein, den ich hier aber merkwürdig deplatziert finde, auch wenn die Angabe natürlich stimmt.

Das Heiligtum, die Santuario da Virxe da Barca, ist von außen sehr schlicht und innen: vor allem verschlossen. Zwar kann man durch eine kleine, vergitterte Öffnung ins Innere schauen, aber das ist doch nicht das selbe! Für die uneigennützige Spende von 1€ kann man eine Minute lang Innen wenigstens das Licht anschalten. Dass das Gebäude vor einigen Jahren durch einen Blitzeinschlag fast vollkommen zerstört wurde, merkt man ihm nicht an (wobei mir natürlich der Vergleich fehlt). Nur die Rentabel wurde (bisher) nicht wieder hergestellt und ist nur auftapeziert.

Ich genieße die frische Luft, schaue aufs Meer und genieße vor allem den Moment. Irgendwann setze ich mich ein wenig abseits an einer weitestgehend windgeschützten Stelle auf die Klippen und bringe mein Tagebuch auf den aktuellen Stand. Ich lese mir meinen ganzen Jakobsweg noch einmal durch. Dabei ergänze ich auch viele kleine Dinge der letzten Tage, die ich bisher nicht aufgeschrieben hatte. Dabei muss ich genauso oft in mich hinein lachen, wie schwer schlucken.

Außer dem Rauschen der Wellen ist hier absolut nichts zu hören. Ich habe zwar meine Musik dabei, aber die braucht es überhaupt nicht. Ich sitze, lausche und bin einfach nur happy. Die Sonne scheint und es könnte mir nicht besser gehen. Naja, fast nicht besser – denn mir tut ein bisschen der Hintern weh. Vielleicht hätte ich mir einen weicheren Stein aussuchen sollen?

Camino provides, wieder einmal

So schön es hier auch ist, auf Dauer wird es doch ein wenig ungemütlich. Da der Wind spürbar auffrischt und das Sitzen auf den Steinen auch zunehmend unbequem wird, gehe ich zurück ins Städtchen. Ich überlege kurz, irgendwo für einen Kaffee einzukehren, aber nach einem Blick auf die Uhr lohnt sich das vor dem Abendessen auch nicht mehr. Daher zieht es mich zunächst zurück in die Herberge und auf mein Bett.

Schon als ich heute Mittag angekommen bin ist mir aufgefallen, dass viele Restaurants und Bars geschlossen haben. Ich bemühe daher das Internet, um zu schauen, wo es denn gut und lecker sein könnte. Draußen hat es inzwischen angefangen, zu regnen, daher habe ich wenig Lust, die Suche live und zu Fuß durchzuführen. Meine Wahl fällt auf eine Bar, die laut ihrer Speisekarte im Internet nicht nur Burger, sondern auch Tapas anbietet. Bingo.

Ich ziehe mich also regenfest an und wage mich raus ins Nasse. Der Ort scheint menschenleer. Zusammen mit dem Regen und der anbrechenden Dämmerung ist es eine ganz merkwürdige Stimmung. Ich bin selbst auch gerade ein wenig von meinem Stimmungshoch runter. Da hilft es auch nicht, dass ich, an der Bar angekommen, vor verschlossenen Türen stehe. Informationen aus dem Internet sind ja oftmals mit Vorsicht zu genießen. Aber der Laden sollte eigentlich auch nach den an der Tür aushängenden Öffnungszeiten geöffnet haben. Es gibt auch nirgends einen Hinweis, dass aufgrund von Covid-19 oder schon zum Saisonende geschlossen sei. Das Ding hat einfach zu und ich stehe blöd da.

Also gehe ich zur Miniatur-Promenade – die Größe bzw. Länge ist proportional zur Größe Muxías, also stellt sie Euch nicht zu groß vor. Einer der Läden dort wirbt draußen mit „abgedrehter Küche“. Falls jemand eine bessere Übersetzung für „cocina canalla“ hat, her damit. Im englischen gibt es dafür wohl auch den Begriff „Thug Kitchen“, wobei ich hier die selben Übersetzungsprobleme habe. Wieder einmal zeigt sich, Camino provides! Das funktioniert scheint’s auch, wenn man mit dem Bus fährt. Denn diese erzwungene Alternative erweist sich als glücklicher Zufall – drinnen sitzen nämlich schon Julien, Francois und Etienne. Mit dabei sitzen zwei Mädels, nämlich Martina und Valentina aus der Nähe von Perugia, mittiger in Italien geht nicht.

Valentina hat heute mit mir im Bus nach Muxía gesessen, Martina ist gelaufen. Beide sind über den Camino Inglés nach Santiago gepilgert. Während Martina Spaß am Wandern bzw. Pilgern hat, hat Valentina beschlossen, dass das nichts für sie ist. Beide gemeinsam haben sie allerdings, dass sie den Inglés nicht besonders schön fanden – zu viel Straße, zu viel Asphalt. Ich werde es mir aber nicht nehmen lassen, auch diesen Weg irgendwann in der Zukunft selbst in Augenschein bzw. unter die Füße zu nehmen.

Martina habe ich auf dem Weg nach Fisterra schon ein oder zwei Mal gesehen, ohne dass wir ins Gespräch gekommen wären. Aber aufgefallen ist sie mir auf jeden Fall. Denn abgesehen davon, dass sie eine wirklich wuchtige Spiegelreflexkamera mit sich herumträgt, könnte sie auch als Model einem Katalog für Outdoorkleidung entsprungen sein. Kennt ihr das, wenn man jemanden nur von weitem sieht uns sich schon denkt „Wow!“? Martina ist so jemand.

Auf Empfehlung des Hauses hin gab es wieder einmal Pizza. Aber in einer wirklich ziemlich „abgedrehten“ Version. Ich bin an sich ja kein großer Fan von Meeresfrüchten, auch mit Kapern braucht mir eigentlich niemand kommen. Die Kombination aus Lachs, Sardellen, Kapern und Zwiebeln auf einer Pizza klingt dann schon so derbe abgedreht, dass ich zumindest probieren möchte. Was soll ich sagen – ungewöhnlich, aber doch überraschend gut.

Der Abend wird natürlich feucht-fröhlich-lustig. Zwischendurch fachsimpeln Francois und Julien über Züge. Sheldon Cooper hätte seine Freude. Logisch, dass das ein gemeinsames Thema ist, denn Francois ist ja Lokführer. Julien outet sich als Straßenbahntechniker. Da ist der kleinste gemeinsame Nenner schon recht offensichtlich.

Etienne, Francois und Julien fahren gleich morgen früh mit dem ersten Bus nach Santiago. Abfahrt 6:45 Uhr. Da muss ich gar nicht lange überlegen, um mich für den zweiten Bus des Tages zu entscheiden. Der fährt um 14:30 Uhr los, da hätte ich also noch einen halben Tag in Muxía. Martina und Valentina sehen das ähnlich – lieber ausschlafen und noch ein paar Stunden am Meer verbringen. Wir drei beschließen, morgen gemeinsam frühstücken zu gehen und dann schauen wir Mal, wie wir den Tag herumbekommen.

Für heute ist dann recht früh Schluss. Unabhängig davon, dass die drei Franzosen früh aufstehen wollen. Wir alle sind rechtschaffen müde. In meinem Fall vom Nichtstun. Also bezahlen wir und trotten durch den Regen zu unseren Unterkünften. Die beiden Italienerinnen sind nicht nur ebenfalls bei mir in der Herberge, sondern auch im selben Schlafsaal – allerdings am anderen Ende, daher sind wir jede/r für sich recht ungestört.

Einschlafen kann ich erstmal überhaupt nicht, obwohl ich wirklich müde bin. Also tippe ich noch ein paar Nachrichten an Freunde und Familie, lese die aktuellsten News und daddle ein bisschen. Irgendwann fallen mir aber dann doch die Augen zu.

2 Gedanken zu “Muxía ja, Camino nein

    1. Hallo Ronald,

      ja, die ganze Atmosphäre dort ist schon besonders. Um meinen Weg noch einmal Revue passieren zu lassen war es genau das richtige. Aber der Tag war nur der Anfang vom Ende, ein bisschen kommt noch 😉

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