Camino Francés – Reflexionen und ein kleiner Ausblick

…einige Zeit später, im März 2019

Es jetzt gerade einmal gut vier Monate her, seit ich aus Santiago de Compostela zurückgekehrt bin. In dieser Zeit musste ich unglaublich oft an den Jakobsweg denken, an meine Erlebnisse, an die Leute, die ich dort getroffen habe. Ich habe mir meine Fotos unendlich oft angeschaut und mich geärgert, was ich alles nicht besucht, intensiv betrachtet oder fotografiert habe. Ich habe fast jeden zweiten Tag in meinem Tagebuch gelesen und dort immer wieder Dinge ergänzt, die mir noch eingefallen sind oder die ich einfach noch ausführlicher beschreiben wollte. Ich habe vorher noch nie ein Reisetagebuch geführt. Aber hier ist es für mich so unglaublich wertvoll, beim Lesen alles noch einmal vor Augen zu haben. Der Camino war nicht nur ein einfacher Urlaub für mich, er war eine echte Erfahrung und etwas, was mich wirklich bereichert hat. Schlicht und ergreifend eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Insbesondere in den ersten 4-5 Wochen nach meiner Rückkehr wollte ich eigentlich nur noch zurück und einfach weiterlaufen. Es war teilweise so schlimm, dass ich abends, wenn ich zur Ruhe gekommen bin, einfach angefangen habe zu heulen. Diese Freiheit und Selbstbestimmtheit auf dem Camino – einfach morgens aufzustehen und nichts anderes tun zu müssen, als zu laufen und vielleicht zwischendurch etwas zu essen – war einfach unglaublich. Ich selbst habe mich auf dem Weg von meiner besten Seite erlebt. Ich war einfach glücklich, tiefenentspannt, zufrieden. Ob ich wirklich etwas auf dem oder vom Weg gelernt habe? Ich glaube nicht, leider. Zumindest habe ich es überhaupt nicht geschafft, das wenig und dafür vernünftig Essen und die viele Bewegung im Alltag umzusetzen. Mein innerer Schweinehund ist leider viel zu mächtig und allein bekomme ich ihn nicht klein…

Auch wenn ich mit meiner neuen Arbeit erst in einigen Wochen anfangen werde und momentan nicht wirklich Stress habe, sehne ich mich nach Spanien. Eben diese absolute Freiheit und die Kontakte zu Menschen, die man noch nie zuvor gesehen hat, die man nicht kennt und zu denen man vom Fleck weg dennoch eine auf ungewöhnliche Art tiefe Beziehung hat.

Bevor ich überhaupt nach Santiago gekommen bin, war mir schon klar, dass ich den – oder einen anderen – Camino auf jeden Fall noch einmal pilgern werde. Seit ein paar Wochen spukt mir im Kopf herum, den Camino Português zu laufen. Aber ich traue mich noch nicht wieder zurück nach Santiago. Meine Erlebnisse, auch die Gefühle, die ich bei der Ankunft in Santiago hatte, sind einfach noch zu frisch, als dass ich sie schon ein halbes Jahr nach meinem Camino Frances „überschreiben“ möchte. Außerdem fürchte ich, dass der Português mich ein wenig enttäuschen könnte. Ich würde ihn unweigerlich mit dem Camino Frances vergleichen und ihm damit wahrscheinlich Unrecht tun. Daher lasse ich es erst einmal ein bisschen kleiner angehen und laufe ab Anfang April den Mosel-Camino. Gemütliche acht bis neun Tage von Koblenz-Stolzenfels nach Trier. Nach allem, was ich über diesen Camino gelesen habe (und es gibt nicht wirklich viele Informationen oder Berichte), ist der Weg noch sehr einsam. Ich möchte ihn ganz einfach dafür benutzen, noch einmal für ein paar Tage wirklich richtig abschalten zu können, bevor ich dann am 1. Mai mit meinem neuen Job anfange. Den Pilgerweg von Porto durch Nord-Portugal und Galicien bis nach Santiago hebe ich mir für meinen nächsten Urlaub auf, er sollte ja in etwa 14 bis 16 Tagen zu schaffen sein.

Ja, ich gebe es zu, mich hat die Camino-Sucht gepackt. Der kaputte Rucksack ist ersetzt, die Packliste ist ein bisschen optimiert, die Jakobsmuschel ist wieder am Rucksack befestigt, und ich freue mich darauf, mich wieder auf die Socken zu machen. Im Gegensatz zu Spanien, habe ich für meine ersten Nächte auch schon ein Bett in der privaten Herberge in Alken und für die zweite Etappe im Kloster Maria Engelport reserviert, da die Pilgerherbergen bzw. die Plätze in Herbergen am Mosel-Camino noch sehr rar sind. Die ersten Etappen werde ich wieder allein gehen, aber gegen Ende habe ich, so wie es ausschaut, vielleicht für ein oder zwei Tage ein bisschen Begleitung, sofern ich meine lauffaulen Freunde animieren kann.

Von meinem Camino-Bekanntschaften habe ich nur noch zu Tanja losen Kontakt. Aber wir haben vereinbart, dass wir uns, nachdem ich im Juni/Juli umgezogen bin, noch einmal treffen wollen. Das finde ich schön. Ich würde auch gerne wissen, was aus Apu geworden ist. Ob er seine kenianischen Berge bestiegen hat?

Mein Camino, mein erster Camino, hat gerade einmal etwas über fünf Wochen gedauert. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass eine so verhältnismäßig kurze Zeit ausreicht, um mich so zu verändern. Ich weiß nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten, aber eine solche Sehnsucht habe ich vorher noch nie verspürt. Es wäre wirklich schön, dieses spezielle Camino-Feeling irgendwie im Alltag zu erhalten. Nur habe ich dazu bisher leider keine Möglichkeit gefunden, dies umzusetzen. Aber vielleicht, wenn ich mit meiner neuen Arbeit anfange?

Komischerweise hatte ich in meinem Familien- und Bekanntenkreis kaum jemanden, der sich für meinen Camino-Erlebnisse interessiert hat. Ich meine, wirklich interessiert hat. Aber ich will mich ja auch niemandem aufzwingen. Denjenigen, die sich mit mir über den Camino unterhalten haben, konnte ich jedenfalls nur raten, es selbst auf jeden Fall einmal zu versuchen. Egal ob eine einzelne Etappe, vielleicht ein Teilstück oder den (oder einen anderen) Camino in Gänze – ich glaube, dass dies ein Erlebnis ist, das auf die eine oder andere, besondere Art begeistern kann. Vorausgesetzt man lässt sich darauf ein.

Buen camino! Ultreia!

4 Gedanken zu “Camino Francés – Reflexionen und ein kleiner Ausblick

  1. Audrey im Wanderland – Bloggerin bei Audrey im Wanderland, meinem Fernwanderblog, auf dem ich fast 2.500 erwanderte Kilometer Etappe für Etappe zum Leben erwecke. Nach dem „Prinzip Lindenstraßen“ gibt es jeden Sonntag einen neuen Tagesbericht zum Nachlesen.
    Audrey im Wanderland

    Ein Grund, warum mir mein Blog so große Freude macht, ist die Tatsache, dass Gleichgesinnte ihn lesen. Leute, die entweder bei meinen Berichten in Erinnerungen schwelgen oder die, die es noch vor sich haben (und die ich beneide). Der zweite Nebeneffekt ist, dass ich ihn beim Schreiben 42 Wochen lang noch mal erleben durfte. Mit 2 Jahren Abstand. Dennoch war er immer noch sehr präsent. Präsenter als die anderen, späteren Jakobswege. Und ja, ich bin auch nicht mehr davon losgekommen. Dieses Gefühl, so bei sich zu sein, habe ich auf jedem Camino, mit Ausnahme des Mosel-Caminos gehabt. Bei dem fehlten mir einfach die Menschen. Trotzdem mochte ich ihn 1000x lieber als den daran anschließenden Rheinsteig. Man ist so herrlich bei sich und so unglaublich frei. Das ist ein großes Geschenk.
    Danke, dass du deine Geschichte geteilt hast

    1. Irgendwo zu Anfang hatte ich geschrieben, dass ich meine Erlebnisse hier aus zwei Gründen veröffentliche – erstens, weil ich es blöd fand, das alles nur für mich selbst aufzuschreiben und zweitens, weil ich mir vor dem Beginn meines Camino begeistert die Berichte anderer Pilger reingezogen habe. Da möchte ich ein bisschen was zurückgeben. Ob hier dann wirklich viele Leute lesen, ist – ehrlich gesagt- zweitrangig. Aber bei jedem Kommentar denke ich an den entsprechenden Tag noch einmal zurück. Das gibt mir sehr viel.

      Vielen Dank fürs Lesen und Deine Rückmeldung! Ab kommenden Monat gibt es dann wie angekündigt auch den Bericht zu meinem Mosel-Camino. Meine Erfahrungen dort waren den Deinen recht ähnlich, aber wie immer doch ganz anders 😊

  2. Lieber Stefan, ich bin durch den Pingback auf Audreys Blog auf Dein Tagebuch gestoßen. Vielen Dank für das Aufschreiben und Teilen Deines Wegs. Toll geschrieben. Es ist fast so, man wäre dabei gewesen. Der Camino (welcher auch immer…) spukt mir schon seit einiger Zeit im Kopf herum. 2020 werde ich wohl erst einmal den Caminho Portugues unter die Füße nehmen. Herzliche Grüße aus dem Schwarzwald, SonjaM

    1. Hallo Sonja,
      vielen lieben Dank für Dein nettes Feedback!

      2020 geht es für mich auch wieder los, auch in Portugal. Wäre ja ein riesiger Zufall, wenn man sich über den Weg laufen würde. Wobei… Das wäre dann wieder einmal die typische Camino-Magic 😅

      Lieben Gruß
      Stefan

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